Warum sollte Tsipras nicht den Kretschmann machen?

„Tsipras stiehlt sich aus der Verantwortung“ – so und ähnlich liest und hört man es in vielen deutschen Medien seit dem Scheitern der Verhandlungen in Brüssel. Dahinter steckt der Gedanke, dass eine Partei und der aus ihr hervorgehende Regierungschef nicht dafür da ist, den Wählerwillen zu erfüllen, sondern seinen Wählern „unbequeme Wahrheiten“ zu vermitteln und sie dazu zu bringen, sich in das unvermeidliche zu fügen. Deshalb kurz nach dem Syriza-Wahlsieg im Januar das gleichzeitig verständnisvoll-nachdenkliche und maliziöse Lächeln von Wolfgang Schäuble, als er, als alter Polithase, Alexis Tsipras darauf hinwies, dass man als Politiker nicht alles, was man gerne möchte, durchsetzen könne.

Wer sich diese Sicht über die Pflichten eines gewählten Politikers zu eigen macht, sieht die Verantwortung Tsipras‘ deshalb so: Der Syriza-Politiker sollte jetzt einer Vereinbarung zustimmen, in der er die Sparpolitik der letzten 5 Jahre akzeptiert und weiterführen will. Seine staatspolitische Aufgabe ist es, dies in Griechenland durchzusetzen, indem er seine Syriza-Fraktion dazu bringt, ihr zuzustimmen. Renten würden also noch einmal mehr gekürzt werden, die Mehrwertsteuer erhöht werden, (die die vielen Menschen in Armut bezahlen müssen) und der Kurs der „strengen“ Austerität weiterverfolgt werden. Da die griechischen Politiker, die diese Sparpolitik durchgesetzt haben, abgewählt worden sind, muss in der Sicht dieser Profipolitiker eben dieser Neue die alternativlose Politik durchsetzen.  Sollte er seine Syriza-Parteikollegen nicht überzeugen können, wäre er eben „gescheitert“. Schließlich haben es „gute“ Politiker wie Gerhard Schröder oder Angela Merkel auch so gemacht – ihre SPD zur Einführung eines Niedriglohnsektors und ihre CDU zur Zustimmung zum Atomausstieg gebracht.

Das erklärt vielleicht auch, dass der Druck der anderen EU-Kollegen, allesamt in etablierten Parteien tätig, auf Tsipras und Varoufakis eher erhöht wurde als dass man ihm wirklich entgegengekommen wäre. Sonst könnte ja ein Exempel dafür statuiert werden, dass ein Politiker seinen Versprechen treu bleiben und dennoch Erfolg haben kann.

Diese Sicht vieler Politiker ist eben so. Was soll man dagegen machen? Nur: dass die Volte von Tsipras, jetzt eine Volksabstimmung über die Austeritätspolitik abhalten zu wollen, „unfair“ sei – weil er ja selber dazu aufrufen will, mit „Nein“ zu stimmen und seine Partei (Varoufakis jedenfalls) gleichzeitig damit rechnet, dass eine Mehrheit der Wahlberechtigen mit „Ja“ stimmen wird, und dass das ihn unglaubwürdig mache und letztlich das Ende seiner Regierung einleiten würde – diese Erwartung muss nicht zutreffen:

Ähnlich „sich aus der Verantwortung“ gestohlen hat sich ja auch Winfried Kretschmann: Er und seine Grünen hatten in Baden-Württemberg im Wahlkampf das Ziel propagiert, dass „Stuttgart 21“ nicht gebaut wird. Er wurde auch gewählt, musste sich aber mit einer mehrheitlichen Stimmung in der Bevölkerung und bei seinem Koalitionspartner SPD pro „Stuttgart 21“ auseinandersetzen. Also gab es eine Volksabstimmung, Kretschmann und die Grünen verloren, „Stuttgart 21“ wird gebaut werden, Kretschmann aber ist weiter im Amt und führt jetzt einen Mehrheitswillen aus, der ihm demokratisch von einer Mehrheit aufgedrückt wurde. Mit dem er sich immer rechtfertigen kann, wenn man ihm vorwirft, er führe ja nicht das aus, was er im Wahlkampf versprochen hat. Ein vorbildlicher Demokrat, oder?

Ich meine, die gleiche Überlegung leitet Tsipras: Er KANN gar nicht einem Sparpaket zustimmen, das er nur in Nuancen, nicht aber in seiner Substanz wegverhandeln kann. Seine Partei würde ihn in großen Teilen im Stich lassen, zerbrechen und die Regierung würde schnell scheitern. Sollte aber eine Mehrheit der griechischen Wählerinnen und Wähler – die im Moment nach wie vor mehrheitlich hinter der Syriza-Regierung zu stehen scheinen – aus Angst um den Verlust des Euro dem Sparprogramm zustimmen, hätte Tsipras ein Mandat, es schweren Herzens umzusetzen. Ob er das dann wollte und könnte, wäre eine andere Frage. Aber statt gleich politischen Selbstmord zu begehen, ist es völlig zulässig für ihn, sich noch einmal an sein Volk zu wenden und zu fragen: „Gilt das noch, wofür Ihr mich im Januar gewählt habt? Oder habt ihr es Euch nach den Entwicklungen der letzten Zeit nochmal anders überlegt?“

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.