Heute vor 100 Jahren wurde der SPD-Politiker Egon Bahr im thüringischen Treffurt geboren. 2015 ist er verstorben. Vor genau 10 Jahren. kurz vor seinem 90. Geburtstag, habe ich ihn für „Im Gespräch mit hr-info“ im rbb-Funkhaus in der Masurenallee interviewt, eine knapp 22minütige Sendung. Am Tag seines 90. Geburtstags stand die vorzeitige Wahl eines neuen Bundespräsidenten an, nachdem Christian Wulff zurückgetreten war und dessen zunächst ihm unterlegener Gegenkandidat Joachim Gauck jetzt nicht nur für SPD und Grüne, sondern auch unterstützt von Union und FDP zum zweitenmal antrat (und dann ja auch gewählt wurde). Das ist schon Zeitgeschichte und war damals eher tagesaktuell interessant (ganz unten die Nachrichtenminute, die ich damals dazu aus diesem Teil des Interviews gemacht hatte).
Aber: was er damals zu Europa gesagt hatte, finde ich gerade derzeit wieder interessant und relevant: Damals gab es eine Kampagne der „Bild“-Zeitung („Noch mehr Geld für Pleite-Griechen? BILD sagt Nein!“) gegen Griechenland und ein neues „130-Milliarden-Rettungspaket“ für Griechenland. Auch Europa erschien gespalten; reichere Länder wie Deutschland, Niederlande oder Nordeuropäer spielten mit dem Gedanken an einen harten „Nord-Euro“ und einen weicheren „Süd-Euro“, zum Beispiel für „Pleite-Griechen“.
Während Elder-Statesmen – wie Helmut Schmidt oder Helmut Kohl – wie aus der Zeit gefallen wirkten, wenn sie eine stärkere europäische Solidarität beschworen; jüngere Politiker aber – wie die damalige Kanzlerin Angela Merkel und viele andere – mit solchen Europa-Pathos wenig anfangen konnten, ist doch die neueste Entwicklung seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des völkerrechtwidrigen Angriffs von Putins Russland auf die Ukraine, gegenläufig: Geschlossen und einig nach außen tritt die EU und der gesamte Westen gegen Russland auf. So erscheint mir das, was mir Egon Bahr damals gesagt hat, sehr passend zu dieser Zeit:
Bahr: „Die ganze Diskussion über Europa heute ist eine Werbung für die Entpolitisierung! Das ist wirklich schlimm! Wir müssen endlich meines Erachtens zurück zu den Ursprüngen. Das heisst: Was ist eigentlich am Anfang? Warum haben wir Europa gemacht? Warum haben wir das Prinzip der Übertragung von nationalen Souveränitäten auf eine europäische Behörde gepflegt und warum machen wir das jetzt nicht?
Ich sage (…), dass das entsetztlich ist! Und ich sage, dass ich die Menschen verstehe, ich teile ihre Auffassung und werde mir Mühe geben, ein bisschen dahingehend zu wirken, dass man sich auf die Ursprünge und auf die Kernbereiche {besinnt}: Übertragung nationaler Souveränitäten auf Europa, die einzige Größenordnung, in der Deutschland hoffen kann, sein Gewicht und seine Interessen zur Wirkung zu bringen“.
Frage: „Glauben Sie, dass Angela Merkel da die richtige Politikerin für ist, eine solche Politik zu machen?“
Bahr: „Na im Augenblick sehe ich, dass sie sich weitgehend mit,,,, Ich sage es mal so: Sie ist Gefangene dieser jetzigen Diskussion und findet fast nicht raus“.
Frage: „Müsste sie nicht die Größe haben, als Politikerin, als deutsche Bundeskanzlerin, da einen Weg herauszufinden? Also: Ein Konzept haben, wie sie aus dieser schwierigen Lage wieder herauskommt?“
Bahr: „Ja. Also, ich finde dass das Gewicht der Bundesrepublik dank ihrer wirtschaftlichen Stärke, dank ihrer geographischen Stärke so groß ist, dass sich darauf eine Verantwortung ergibt, die man mit anderen teilen muss. Und zwar mit allen: Nicht nur mit Frankreich, sondern auch mit Polen. Wir können Europa nicht mehr denken, wenn nicht mindestens ein großer osteuropäischer Staat daran beteiligt ist und einbezogen wird“.
Interessant wäre es bestimmt, zu hören, was wohl Egon Bahr zu einem anderen „großen osteuropäischen Staat“ sagen würde, der damals nicht Mitglied der EU war und heute auch nicht, der Ukraine. Die das jetzt gerade immer öfter zwischen West und Ost gespaltene Europa zusammenstehen lässt, sogar bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Was es wohl nach Meinung von Egon Bahr konkret jetzt für ein nach wie vor starkes Deutschland hieße, seine Verantwortung zu übernehmen.
Nachrichtenminute 16.3.2012: „Bahr: Gauck wäre nicht mein Kandidat gewesen“
Der SPD-Politiker Egon Bahr hat im Gespräch mit hr-iNFO Vorbehalte gegen Joachim Gauck als künftigen Bundespräsidenten geäußert. Egon Bahr sagte, er hätte Gauck als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten weder aufgestellt noch gewählt. Als Grund nannte Bahr Gaucks Umgang mit den Stasi-Vorwürfen gegen den früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Bahr sagte, dass er – wörtlich – „nicht vergessen kann, dass er [Gauck] die Kampagne gegen meinen Freund Manfred Stolpe nicht losgetreten, aber jedenfalls auch nicht gestoppt, sondern gefördert hat“. Auf die Frage, was er Gauck konkret vorwerfe, sagte Egon Bahr: „Das kann ich Ihnen im Einzelnen nicht sagen, aber ich habe das Gefühl, dass Frau Birthler sich auch auf ihn gestützt hat, als sie gesagt hat: ‚Der muss im Prinzip weg‘“.
Manfred Stolpe waren 2003 von der Stasi-Unterlagen-Behörde unter Gaucks Nachfolgerin Marianne Birthler Kontakte zur Stasi vorgeworfen worden. Bis heute ist Stolpes Verhältnis als einer der obersten Vertreter der evangelischen Kirche in der DDR zum Ministerium für Staatssicherheit umstritten.
Weiter sagte Bahr im hr-iNFO-Interview, er könne aber seine Partei, die SPD, verstehen, dass sie mit Gaucks Kandidatur, mit Hilfe der FDP, gezeigt habe, dass die Kanzlerin sich vor zwei Jahren mit ihrer Unterstützung Christian Wulffs geirrt habe.
Der ehemalige enge Vertraute Willy Brandts Egon Bahr feiert am 18. März seinen 90. Geburtstag – am selben Tag, an dem die Bundesversammlung voraussichtlich mit Joachim Gauck einen neuen Bundespräsidenten wählen wird. „Dass ich ihn geschenkt bekomme zu meinem Geburtstag, ist eine persönliche kleine Freude“, gab sich Bahr trotz seiner Kritik versöhnlich.
Christoph Käppeler, Berlin