Bertolt Brechts legendärer „Unfall bei Fulda“

Radiobeitrag von Christoph Käppeler am 10. Februar 1998

„Infolge der wohltuenden Wirkung auf die Nerven finden wir gerade unter den Gehirnarbeitern enthusiastische Anhänger des Motorwagens.“ Das war 1909 in Meyers Großem Konversations-Lexikon zu lesen. Und auch Bertolt Brecht, der heute vor 100 Jahren geboren wurde, war ein begeisterter Automobilist. Und deshalb darf man, gedenkt man des großen deutschen Dichters und Dramatikers, nicht den legendären „Unfall bei Fulda“ vergessen. Der geschah 1928 oder 1929, und diente, so wie wir uns seit letztem Jahr verstärkt mit dem Phänomen des Tunnelunfalls befassen, damals als Lehrbeispiel für die Verkehrserziehung; und leichte literarische Spuren in Brechts Werk hinterließ er auch.

Wohin fuhr er wohl damals, der Bertolt Brecht? Nach Augsburg, um sein Elternhaus zu besuchen? Wollte der dreißigjährige Dichter in Frankfurt etwas erledigen? Zurück nach Berlin? Naja, jedenfalls war er gerade in der Nähe von Fulda. Um diese Stadt, Symbol des katholischen Klerikalismus, machte Brecht, der 1924 begonnen hatte, den Marxismus zu studieren, natürlich einen Bogen – Schließlich soll August Bebel gesagt haben: „Wenn in Fulda einmal die roten Fahnen wehn, dann hat in Deutschland der Sozialismus gesiegt“. Brecht und die Domstadt – das ging nicht zusammen, und so geschah der Unfall nicht in, sondern bei Fulda.

Daß er Marxist war; und gerade die Dreigroschenoper geschrieben hatte, hatte Brecht nicht daran gehindert, sich sein Gefährt bei der österreichischen Firma Steyr AG durch ein Werbegedicht zu erschreiben – er besang die sechs Zylinder, die 30 Pferdestärken und die 22 Zentner der Steyrwägen. Und bekam dafür ein nagelneues Auto spendiert.

In dem, einem schicken Kabrio, war er nun mit halsbrecherischen 70 Stundenkilometern unterwegs. Plötzlich schoß hinter einem entgegenkommenden Lastwagen ein Auto hervor, um zu überholen, und schoß auf Brecht zu. Sollte das das vorzeitige Ende des Erfinders des epischen Theaters sein? Nach links konnte er nicht ausweichen – da kam ihm der LKW entgegen. Rechts standen Bäume, und hinter diesen Bäumen fiel die Straße ungefähr fünf Meter in einer Böschung ab. Wenn er die hinabführe, würde er sich mehrmals überschlagen. Brecht wich also nach rechts aus, dabei aber bremste er geschickt mehrmals kurz und stark hintereinander und fuhr schließlich auf den nächsten erreichbaren Baum auf. Es gelang ihm, genau mit der Mitte des Kühlers den Baum zu treffen und so den Wagen aufzufangen. Der Kühler zerbrach, er bog sich ringförmig um den Baum, aber: der Wagen war gestoppt. Der spätere Dichter der „Mutter Courage“ brach sich eine Kniescheibe – blieb aber ansonsten heil.

Nur: Das schöne Auto war Schrott. Was nun?

Schon 1909 hatte doch Dr. Franz Kafka, damals Praktikant bei der Arbeiterversicherungsanstalt Böhmen, die photographische Spurensicherung nach Automobilunfällen empfohlen.

So stellte kurz darauf die Steyr AG zusammen mit Brecht den Unfall bei Fulda nach. In der Berliner Monatszeitschrift „Uhu“ erschien 1929 ein Artikel mit Fotos über den Fuldaer Crash. Titel: „Rekonstruktion eines Auto-Unfalls des Dichters Brecht“. Der Feind jedes Automobilisten sei, so hieß es darin, der „wilde Autofahrer“, der an fast allen Unfällen schuld sei – egal, ob er einen Hanomag, einen Opel oder einen Mercedes lenkt.

Aus dem legendären „Unfall bei Fulda“ wurde so nachträglich der erste Crash-Test der Geschichte; Brecht war der erste Dummy. Brecht verarbeitete das Ereignis auch literarisch: In „Herr K. fährt Auto“ belehrt er uns darüber, daß man immer das vor einem fahrende Auto beobachten muß – mit diesem Lehrstück wollte das heutige Geburtstagkind den siebten Sinn seiner Leser schärfen.

Für seine Mitarbeit bekam Brecht von der Firma Steyr wieder einen nagelneuen Sechszylinder.

Mit dem verunfallte er nicht mehr – aber bei seiner Flucht 1933 mußte er ihn schweren Herzens zurücklassen. Die Nazis rückten ihn nicht mehr heraus. Im schwedischen Exil wechselte der Autonarr und fuhr fortan die Marke Ford.

 


Ich wurde damals, 1998, durch diesen Artikel im noch jungen Internet auf die Brecht’sche Unfallfahrt aufmerksam. Ob diese Seite http://litterapur.de/schrott/default.htm sich seit 1996 noch einmal geändert hat, weiss ich nicht – ich weiss auch nicht mehr, ob dies schon die damalige URL gewesen ist.

Als einzige Stelle gegenüber meinem damaligen Beitrag habe ich „Schließlich hatte August Bebel gesagt“ geändert zu: „Schließlich soll August Bebel gesagt haben“.

Übrigens hatte sich Dr. Franz Kafka neben seinem literarischen Schaffen auch bei der Arbeiterversicherungsanstalt generell für den Einsatz technischer Innovationen verwendet:

„Was die Prager Delegation und auch Franz Kafka auf dem Kongress in Wien am meisten
beeindruckte, das war der Einsatz von Filmen bei der Unfallverhütung-Propaganda.
Kafka, den das neue Medium ohnehin schon früher faszinierte, betonte in seinem
Jubiläumsbericht die erfolgreichen Verhandlungen mit zwei Produktionsfirmen, die ihre
Filme der AUVA zur Verfügung stellten. Diese beiden Filme wurden dann bei Vorträgen
über Unfallverhütung gezeigt, die von der AUVA für große Firmen und Betriebe organisiert wurden.  Die Visualisierung im Bereich der Unfallsicherheit bedeutete einen großen Fortschritt“. (Tschechisch oder Deutsch? Auf dem Weg von Konkurrenz zu Dominanz. Zum Einsatz von innerer und äußerer Amtssprache in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt im Prag der Kafka-Zeit (1908-1922), S.94-95)