Das „Zucken des sterbenden Systems“ – Rechtspostillen-Vibes

Es ist schon einige Tage her, aber ich muss immer wieder daran denken, obwohl es im Strom all dessen, was ich medial lese, längst von anderen „Aufregern“ verdrängt sein müsste.

Ich komme einfach nicht drüber hinweg. Ich habe in einer deutschen Zeitung, die immer noch zu den „seriösen Medien“ gezählt wird, etwas gelesen, was ich ungeheuerlich fand. Und immer noch ungeheuerlich finde.

Es war eigentlich nur ein Satz. Darin war die Rede vom „Zucken des sterbenden Systems“. Das löste meine Fassungslosigkeit aus. Moritz Eichhorn kommentierte am 30.12. in der „Berliner Zeitung“ die Debatte über Elon Musks Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“. Er kritisierte die Doppelmoral vieler Kritiker: Musk darf danach nicht in Deutschland die AfD zur Wahl empfehlen, weil er sich damit in den bundesdeutschen Wahlkampf einmische. Das durften doch aber auch Putin, Soros und Bill Gates: sich in deutsche Politik einmischen; und Ralf Stegner oder Luisa Neubauer rührten umgekehrt die Wahlkampftrommel für Kamala Harris.

Argumente, die man natürlich vorbringen darf. Was mich erschrocken machte, war der Ton des Kommentars: Vibes von Rechtspostillen aus der Hölle. Es ist für den Kommentator nicht einfach nur Kritik, die er nicht teilt und deren Verlogenheit und deren Doppelmoral ihn stört:

„Das Ungetüm hat Angst. Der politmediale Hauptstadtkomplex explodiert nach Elon Musks Gastbeitrag in der Welt am Sonntag in hassverzerrten Zuckungen“.

Was für ein Bild! Alles drin: Die Stadt, die Hauptstadt, die Medien, verschmolzen mit der Politik, der „Komplex“, die ganze Baggage! Das perfide Ungetüm zuckt. Mit seiner hässlichen Fratze des Hasses wird es gefährlich und kann in seiner Agonie und Angst um sich schlagen.  Die Gefahr geht aus von etwas, was bedrohlich, gefährlich ist, es wird mit Metaphern des absolut Bösen belegt.

Die „Ideologen und Mitläufer in Parteien und Redaktionen“ spüren „wie ihre Macht durch die sozialen Medien schwindet. Lügen, Widersprüche und Unredlichkeiten, die bisher verschwiegen wurden, werden unabweisbar“.

Und wenn ihre Macht schwindet, in den Parteien und Redaktionen, dann könnte man ihnen ja auch nach der Revolution noch den Prozess machen. „Lock them up“ könnten Trump- und Musk-Anhänger rufen, wie es so ihre Art ist.

Die Sozialen Medien sind mächtig geworden. Angeblich ist das ein Segen, weil „Lügen, Widersprüche und Unredlichkeiten“ jetzt auffliegen. Es scheint etwas erfrischendes zu haben, dass ein nicht demokratisch bestimmter „reichster Mann der Welt“ mit „X“ sogar ein ganzes Soziales Medium für sich kaufen konnte, in dem er allerdings gerne auch lügt oder unredlich ist. Olaf Scholz sei ein „inkompetenter Trottel“, Robert Habeck ein „Landesverräter“ und Frank-Walter Steinmeier ein „antidemokratischer Tyrann“, hetzt Musk und kann das an hunderte Millionen verbreiten. Ihm gehört halt der Laden und er hat den Algorithmus so zuschneiden lassen, dass er jeden Elon-Post auch an jeden Nichtfollower ausspielt.

Die Meinungsfreiheit wird unterdrückt. Ich habe nur 212 Millionen Follower 😦

Wie jede rechte Feindanalyse ist so eine Polemik widersprüchlich: Einerseits die Opferklage: „Unsere Meinung wird unterdrückt! Wir sind unfrei! Wir – das von den Eliten klein gehaltene Volk – müssen uns befreien!“ Andererseits die nicht verhohlene Häme: „Wir sind stark! Ihr zittert schon so vor uns, dass es nur so eine Freude ist! Zu recht, denn ganz reiche, mächtige Menschen sind mit uns, und gemeinsam werden wir gnadenlos mit Euch abrechnen!“

Ich will Eichhorn nichts unterstellen. Ich bin einfach erstaunt. Mich macht solch eine Sprache einfach fassungslos. Um die angeblich gefährdete Meinungsfreiheit eines zu Recht als äußerst dubios angesehenen politischen Akteurs wie Musk zu schützen, werden die Kritiker dämonisiert:

Nicht mehr der Musk-Alliierte Donald Trump – ein verurteilter Krimineller, ein Antidemokrat, der erwiesenermaßen trotz seine verlorenen Wahl 2021 durch Wahlfälschung und durch einen Sturm auf das demokratisch gewählte US-Parlament an der Macht bleiben wollte,

nicht mehr die AfD, aus deren Reihen schon mehrfach Menschen an Umsturzplänen beteiligt waren und deren einflußreichster Ideologe Björn Höcke ein antihumanistisches Vertreibungsprojekt namens „Remigration“ plant und einen Systemwandel will, bei man „nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘ herumkommen“ werde,

und nicht Musk selbst, der reichste Mann der Welt, der sich eine einflussreiche Social-Media-Platform gekauft hat und darin die Meinungsfreiheit nach Gutsherrenmanier handhabt,

sie alle erregen nicht den Zorn des Kommentierenden, der in seinem Furor eine Sprache verwendet, die man bis vor kurzem noch eindeutig dem Denken von extremistischen antidemokratischen Feinden unseres freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates zugeordnet hätte:

„Am Ende ist der Musk-Vorfall nur ein weiteres Zucken eines sterbenden Systems. Wir liegen bei den grundstürzenden politischen Entwicklungen, die sich auf der ganzen Welt abspielen, einige Jahre hinter den USA, Osteuropa, Skandinavien oder Italien, aber sie kommen auch zu uns. Zu eklatant sind die Widersprüche zwischen Wunsch und Wirklichkeit“.

Unser „System“ liegt in seinen letzten Zuckungen, es stirbt. Etwas Neues muss kommen. Etwas, für das ein verrückter, erratischer „Visionär“ eine diskutierenswerte Alternative hat. Aber welche wäre das?

Superreich ist er natürlich. In Kumpanei mit einem demokratisch gewählten Präsidenten, der blutige Diktatoren wie Putin oder Kim Jong Un bewundert, gibt es vielleicht eine letzte Wahl, dann schaffen Musk, Trump, Putin, Xi Jinping und Björn Höcke die schöne neue Welt?

Oligarchen regeln weise unsere Wirtschaft, gut ausgestattete Armeen halten den mörderischen Hungerpöbel effektiv an unseren Grenzen in Schach?

Die EU-Kommission wird abgesetzt, denn Soziale Medien genießen wieder die absolute Meinungsfreiheit, reguliert nur ein wenig von Elon Musk und Mark Zuckerberg. Deren Recht dazu beschließt das Volk per Akklamation.

Vom „System“ sprechen – tut weh, ist aber nach 90 Jahren mal wieder nötig

Vom abzuschaffenden „System“, von der „Systempresse“ sprach man 1933 und sprechen Neonazis und Rechtsextremisten auch heute. Auch Schuldige für all das, was unser „System“ angeblich sterben macht, hatten wir damals wie heute.

„Die Botschaft läßt sich nicht töten“, meint Eichhorn. Deutschland müsse sich überlegen, ob es die „schmerzhaften Prozesse der Selbstspaltung den anderen nachmachen will oder Kämpfe, die nicht zu gewinnen sind, überspringt und zu innergesellschaftlichen Verhandlungen übergeht“.

Was heisst das? „Kämpfe“ für eine Energiewende, soziale Gerechtigkeit, lebenswerte Städte sind nicht zu gewinnen – müssen wir uns also schweren Herzens öffnen für solche Ideen wie „Remigration“? Vielleicht den Gleichheitsgrundsatz des Grundsetzes „reformieren“ und Menschengruppen wieder unterschiedliche Eigenschaften zuschreiben und gruppenbezogene Rechte zuschreiben? Mehr Mut zum „Identitären“? Vielleicht die „wohltemperierten Grausamkeiten“ noch etwas milder gestalten?

„AfD-Politik ohne AfD“?

Am besten ohne Höcke und seine Genossen, aber in seinem „Geiste“? Wie wäre es denn mit „AfD-Politik ohne AfD“ (Ist das nicht eine Super-Idee? Denn in der seien ja viele „verkappte Rechtsradikale“). Man kann sogar sagen: da sind ein paar offensichtliche Rechtsextremisten drin. Deren Politik könnte man ja machen, ohne dass man sie dabei hat 🤔.

Kein Problem für einen Kommentator, für den anscheinend, wie auch für Mark Zuckerberg oder die ÖVP in Österreich, es jetzt an der Zeit ist, auf die Antidemokraten zuzugehen, und die Errungenschaft unserer nach wie vor immer noch ziemlich intakten europäischen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaaten leichtfertig unter dem Ansturm der Menschenfeindlichkeit und dem Hang vieler zum Autoritären fahrlässig mit den gierigen und skrupellosen Vertretern dieses Bösen aufs Spiel zu setzen, indem wir das ganze neu „verhandeln“.

Übrigens: Vielleicht dürften die Schreiberlinge in der politmedialen Blase, die dann doch nicht zusammen mit dem System untergehen wollen, weiter dabeibleiben. Wer weiß.

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