77 Jahre nach der Deportation hessischer Sinti; 40 Jahre nach dem Hungerstreik von 12 Sinti in Dachau:

Roma und Sinti sind in Europa massiv bedroht.

77 Jahre, nachdem hessische Sinti von den Nationalsozialisten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt worden sind, warnen deutsche Sinti und Roma in der Corona-Krise vor einer europaweiten Katastrophe, die Hundertttausende Leben fordern könnte.

„Roma und Sinti stellen mit über 10 Millionen Menschen die größte ethnische Minderheit Europas dar. Die Angehörigen der Minderheit sind derzeit massiv bedroht“, heisst es auf der Seite des Verbandes deutscher Sinti und Roma, Landesverband Hessen. In Bulgarien seien in den letzten Tagen mehrere Stadtviertel abgesperrt worden, in denen Menschen mit Roma-Hintergrund leben. Dabei sei auch mit dem Gerücht operiert worden, dass Roma das Corona-Virus in Bulgarien eingeschleppt hätten.

Über diese große und besondere Risiko-Gruppe spricht man in der Öffentlichkeit kaum. Das Desinteresse an ihnen hat sicherlich mit der jahrhundertelangen Verachtung und Diskriminierung von Sinti und Roma zu tun. Die schließlich dazu führte, dass die Nationalsozialisten sie, genauso wie Juden, als „minderwertige Rasse“ planmäßig gezielt vernichten, sprich: ermorden wollten.

Vor 77 Jahren, im März 1943, wurden Sinti aus vielen Hessischen Städten mit Zügen deportiert. Die meisten von ihnen überlebten das KZ nicht. Zwei Schwestern aus Fulda, die zu den wenigen gehört hatten, die das Grauen überlebt hatten, haben mir 1994 und 2005 erzählt, was ihnen damals angetan wurde. Eine von ihnen war Amalie Guthermuth, über die ich damals einen Hörfunk-Beitrag gemacht habe. Ich habe nun eine wesentlich ausführlichere Version dessen, was sie mir erzählt hat, hier eingestellt. Auch ihr Zeugnis und ihr Schicksal sollten dokumentiert bleiben und nicht in Vergessenheit geraten.

Lange Zeit war der Holocaust an Sinti und Roma nicht einmal anerkannt worden. Heute genau vor 40 Jahren traten deshalb 40 Sinti in den Hungerstreik:

Der Antiziganismus, der zum Massenmord an Sinti und Roma durch die Nazis führte, ist nie verschwunden und führt nicht nur in Osteuropa, aber vor allem dort dazu, dass den dort lebenden Roma Grundrechte verwehrt werden:

„Die betroffenen Menschen werden grundrechtswidrig von jeder medizinischen Versorgung ausgeschlossen, die Versorgung mit Lebensmitteln und allen anderen Gütern des täglichen Bedarfs abgeschnitten. Damit wird eine katastrophale humanitäre Notlage vom bulgarischen Staat unter Verwendung rassistischer Begründungen herbeigeführt“, so die Vertreter der hessischen Sinti und Roma.

In vielen osteuropäischen Ländern verschlechtert sich derzeit die ohnehin schon prekäre Lage vieler Roma dramatisch. Für Roma gibt es keine soziale Absicherung, nachdem das Corona-Virus vielfach die soziale Lage der Menschen verschlechtert hat, seien Roma vielfach jetzt völlig mittellos.

An diesen Vorgängen zeigt sich, wie erschreckend aktuell der jahrhundertealte Antiziganismus noch immer ist“, sagt Adam Strauß, Vorsitzender des hessischen Landesverbandes der Sinti und Roma. „Auch hierzulande wurde und wird der Hass auf Sinti, Roma und andere Minderheiten geschürt, wenn etwa von Wirtschaftsflüchtlingen und Armutszuwanderung die Rede ist.“

Es deute sich eine europaweite Katastrophe an, die Hunderttausende Leben fordern könnte. „Wir fordern die europäischen Regierungen auf, wirksame Maßnahmen gegen den Rassismus, die Ausgrenzung und die weitere Verelendung von Angehörigen der Roma und Sinti zu ergreifen. Europa muss jetzt hinsehen und helfen!“ so Adam Strauß.

„Bei uns hat sich keiner entschuldigt“, hatte Amalie Guthermuth gesagt, die zweimal nur knapp der Ermordung in Auschwitz-Birkenau entkommen war. Sinti und Roma als Opfer eines Massenmordes der Nazis waren in den Jahrzehnten danach selten ein Thema für Politik und Medien.

„Wenn mal ein Artikel drinne ist, dann ist es vielleicht mal soviel…und alles andere interessiert nicht“, sagte Amalie Guthermuth damals, 1994; resigniert.

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