Das ungezogene KZ-Opfer mit den schlechten Manieren

Barbara und Walter Scheel 26.5.2011

Barbara und Walter Scheel 26.5.2011 bei der Verleihung des Walter-Scheel-Preises 2011 in der KfW-Niederlassung in Berlin (Foto: Christoph Käppeler)

Dieser Tage hat die Gattin eines unserer lebenden Ex-Präsidenten bei „Anne Will“ sich kurzzeitig dem Verdacht ausgesetzt, sich rassistisch geäußert zu haben (http://www.abendblatt.de/kultur-live/tv-und-medien/article2232347/Bei-Anne-Will-Rassismusvorwurf-gegen-Barbara-Scheel.html). Irgendwie war dann am Ende wieder alles gut. Frau Scheel Vorbehalte gegenüber Menschen anderer Hautfarbe vorzuwerfen, scheint ihr gegenüber tatsächlich sehr ungerecht zu sein. So hält sie beispielsweise sehr große Stücke auf Asfa-Wossen Asserate, einen Großneffen des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie, einem Unternehmensberater, der seit den siebziger Jahren in Deutschland lebt und der 2003 mit dem Buch „Manieren“ einen Bestseller schrieb.

Ich möchte dazu eine Geschichte erzählen, bzw.: ich gebe hier wieder, wie Barbara Scheel im vergangenen Jahr eine Geschichte erzählt hat. Anlass war die Verleihung des „Walter-Scheel-Preises“ am 26. Mai 2011. Asfa-Wossen Asserate war auch bei dieser Preisverleihung anwesend; er wurde „für seinen Einsatz als Brückenbauer zwischen Völkern und Kulturen sowie für eine engere Zusammenarbeit mit Afrika“ ausgezeichnet.

Barbara Scheel ergriff zum Ende der Verleihungsfeier noch einmal das Wort:

„Das ist mir ein Bedürfnis, Prinz Asserate: Ich habe Sie immer schon verehrt, seit ich sie durch Bücher kenne; persönlich sind wir uns ein oder zweimal begegnet, aber eines der faszinierendsten Bücher, die Sie geschrieben haben, war das Buch ‚Manieren‘. Und das kann man wirklich nur jedem, auch gerade jedem jungen Menschen ans Herz legen. Sie haben das vorhin so sehr nett gesagt:Die 68er-Generation ohne Manieren und was weiss ich. Es ist sehr schwer, mit Menschen zu leben, die keine Manieren haben. Und: Je größer wir sind,desto mehr braucht man Manieren. Man braucht Spielregeln, aber die muss man eben auch lernen, um sie zu beherrschen. Und genauso, was sie angesprochen haben von Sigmund Freud: Man kann sich gegen schlechte Manieren im Grunde genommen gar nicht wehren, das ist auch eine Kunst. Und dazu möchte ich ein ganz kleines Beispiel sagen. Das hat mit der Entwicklungshilfe nichts zu tun, aber es spielt sich in unserem Alltag eben immer wieder ab.

Ich bin ein, sagen wir mal: ethnisches Gemisch, ich bin ein richtiger Europäer, um mit Herrn Sarrazins Worten zu sprechen; bin auch nicht unzufrieden deswegen, aber: Es ist mir folgendes passiert in Italien. Wir waren an einem Ort, wo man zur Kur geht. Und da bin ich mit einer älteren Dame im Aufzug, in einem Hotel, und es kommt ein Mann, auch eines gewissen Alters, mit einem Hut in den Aufzug. Und die Dame sagt zu ihm: ‚Würden Sie bitte den Hut abnehmen!‘ Daraufhin sagt er: ‚Das habe ich mir von Ihnen nicht sagen zu lassen!‘, macht den Ärmel hoch und zeigt die Nummer, die er von irgendeinem Konzentrationslager mitgebracht hat. Tragisch genug, ich will da gar nicht drauf eingehen, und da sag‘ ich zu ihm: ‚Also, das ist jetzt aber doch ein kleines bisschen zu viel!‘ Da sagt er: ‚Wenn Sie Deutsche sind, dann gehören Sie in die gleiche Kiste, Sie haben den Mund zu halten!‘ Daraufhin brach die alte Dame in Tränen aus, und wir sind ausgestiegen. Nein: Und da sagt er zu mir, eben: ‚Wenn Sie Deutsche sind, dann haben Sie den Mund zu halten!‘ Und daraufhin habe ich die richtige Bemerkung – empfinde ich – gesagt: Ich habe gesagt: ‚Wer mich beleidigt, das bestimme ich! Aber dann müssen Sie gehen!‘ Und dann bin ich ausgestiegen, mit der Dame, in Tränen, und sie hat gesagt: Ich möchte sofort zu Herrn Bundespräsident Scheel (der unten in der Halle war) und möchte ihn sprechen‘.

Da habe ich gesagt: ‚Das machen wir nicht, sondern ich lade Sie jetzt ein an die Bar zu einem Longdrink und wir werden darüber sprechen. Das beste Mittel ist, dass man überhaupt nicht drauf eingeht. Man kann auch Ungezogenheit mit Wohlerzogenheit bestrafen, indem man gar nicht drauf eingeht!‘ Und das ist das schwere, das muss man auch jungen Menschen beibringen: dass es manchmal Situationen gibt, wo jedes Wort unnütz ist.

Ich sage immer: An den ungezogenen Mitmenschen sind die Wohlerzogenen schuld, die sich nicht getrauen, das zu sagen! Und da müssen wir wirklich dran arbeiten, und deswegen ist dieses Buch so hilfreich. Ich habe es mir jetzt erlaubt, in größerer Auflage zu kaufen und in unserem kleinen Nest, in Bad Krozingen, am Gymnasium mal zu verteilen, in der Hoffnung, dass die Generation noch lesen kann und dass sie zumindest sich einige Sachen hinter die Ohren schreibt. Denn so lange sie in der Schule sind und nicht ein gewisse Druck dahinter ist, machen sie ja nichts. Und deshalb muss man es ihnen jetzt geben und nicht erst, wenn sie mit der Schule fertig sind.

Aber nochmal, 1000 Dank wollte ich sagen, dass er als Ausländer Deutschland in einer großartigen, humorvollen Art und Weise sagt, woran es fehlt. Und das sind Kleinigkeiten, die ein Miteinander eben wirklich viel einfacher gestalten würden: Wenn wir uns da alle ein bisschen Mühe geben würden, und deswegen nochmals meinen allerherzlichsten Dank, kaufen Sie sich das Buch „Manieren“, es lohnt sich! Danke!“

Sollte man nicht eher diese kleine Geschichte von Barbara Scheel auf einer DIN A 4- Seite ausdrucken und an unseren Schulen verteilen? Sie ist so fantastisch dazu geeignet, einige Fragen darunter zuschreiben, z.B. für eine Klausur oder für eine Hausarbeit:

„Schreiben Sie für morgen einen Essay nicht länger als 50 Zeilen. Erörtern Sie darin folgende Fragen:

Hat Barbara Scheel bei der von ihr beschriebenen Situation im Aufzug nach allgemein anerkannten Benimmregeln richtig reagiert? Wenn ja, benennen Sie die einzelnen Regeln, an die sie dabei denken.

Diskutieren Sie zwei Fälle: Einmal: Der ältere Herr hat nicht im KZ gesessen und hat seinen Hut aufbehalten und dagegen: Der ältere Herr hat im KZ gesessen und hat seinen Hut aufbehalten. Hätte Barbara Scheel in beiden Fällen so reagieren sollen, wie sie es hat?

Kann man Barbara Scheel ihrerseits einen oder mehrere Verstöße gegen gute Manieren vorwerfen? Hätte Sie beispielsweise höflicherweise Bedauern über das, was Deutsche dem Herrn zugefügt haben, äußern sollen, selbst wenn es nur formelhaft gewesen wäre?

Ist das Vergehen „Hut aufbehalten in Gegenwart von Damen“ in seiner Schwere vergleichbar mit den Vergehen, deren Opfer der ältere Herr mutmaßlich geworden ist? Hätte Barbara Scheel sein Schicksal als mildernden Umstand bei der Einschätzung seines rüden Verhaltens berücksichtigen müssen?

Machen Sie sich beim Erstellen ihres Aufsatzes auch Gedanken über den Begriff „Einfühlungsvermögen“ und seinen Zusammenhang mit „Manieren“.

Erörtern Sie bitte auch, ob die Parteizugehörigkeit Walter Scheels vor 1945 (welche!?) einen Einfluss auf Barbara Scheels Entscheidung gehabt haben könnte, die alte Dame von einer Beschwerde bei ihm über das ungehobelte KZ-Opfer abzuhalten.“

Barbara Scheel ist also keine Rassistin, würde ich sagen. Sie schwärmt von einem afrikanisch-stämmigen Autor (was einer Rassistin nicht passieren könnte). Sie liebt Italien, macht dort gerne Kuren und genießt die dort ansässigen Longdrinks. Sie kümmert sich rührend um ältere Damen. Und sie rüffelt schlechtes Benehmen dort, wo es mutig und unverdruckst anzuprangern ist. Dass Ex-68er sich nicht benehmen können (die setzen sich z.B. auf den Boden, halten Damen nicht die Autotür auf und behalten ihre ungepflegten Hüte einfach auf), wird man ja wohl noch sagen dürfen.  Das gilt auch für solche Menschen, die mal durch das eine oder andere unangemessene Vorgehen Deutscher ein wenig Probleme gehabt haben mögen: Auch sie müssen sich von der mutigen Dame zu Recht an allgemein verabredete Benimmregeln erinnern lassen. Ich hoffe, ich habe mit der Wiedergabe dieser kleinen, von ihr erzählten Geschichte dazu beigetragen, Irritationen über ihren Charakter auszuräumen, nur weil sie sich aus Versehen ein klein wenig ungeschickt ausgedrückt hat.


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