„Zitternd vor Kühnheit“ nicht mehr schweigen – von Walser zu Grass

Als ich das „Gedicht“ von Günter Grass las, in dem er sich in die Pose dessen warf,  der endlich lange ungesagtes ausspricht („ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien“), dachte ich sofort an Martin Walser und seine Selbstzuschreibung von Courage, die mir damals (1998) am unangenehmsten an seiner Paulskirchenrede auffiel: („…, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?“) Walser zitterte, Grass traut sich erst jetzt, hoch gealtert und „mit letzter Tinte“. Bei allem anderen, was zu Grass‘ Gedicht (und damals zu Walsers Rede) gesagt werden kann – dieses aufdringliche, von Unbescheidenheit triefende Sichaufspielen alter Männer stieß mich bei beiden gleich von Anfang an ab. Um von vornherein auszuschließen, dass niemand es bemerken könnte, dass man sich traut, heldenhaft Tabus zu brechen, beweihräuchert man sich sicherheitshalber schon einmal selber. Ich erinnere mich, dass mir bei Walser damals ein treffendes Wort fehlte, um mein großes Unbehagen über seine zitternde Kühnheit ausdrücken zu können. „Fremdschämen“ – das es ganz gut getroffen hätte – gab es damals, glaube ich, noch nicht.